Rajasthan: Im Land der Schmetterlingsfarben (2024)

von Bernd Schwer

In Indien flirren die Farben, leben die Götter und Menschen, die innig an sie glauben. In dem Wüstenreich Rajasthan tragen Frauen Silber als Kapitalanlage und Männer kennen 18 verschiedene Wickeltechniken für ihren Turban

Inhaltsverzeichnis

  • Silber als sichere Anlage
  • Jaisalmer: Tourismus als Rettung
  • Altstädte mit Straßenlabyrinthen

Silber als sichere Anlage

Wir sitzen auf einer Matratze, und Meister Soni zeigt uns, wie Reichtum aussieht. Dazu stülpt der Mann mit dem dünnen Schnurrbart einen Plastikeimer auf den Kopf. Heraus kullern Silberreifen, Silberarmbänder, Silberbecher. Schwere, massive Ware. Geschickt verteilt ein junger Assistent die Stücke auf dem verblichenen Tuch, das den Futon bespannt. Der misst zwei auf zwei Meter, füllt fast den ganzen Raum aus und dient als Verkaufstresen von Meister Soni, einem Mann, der immer lächelt und ein melodisches indisches Singsang-Englisch spricht. Begrüßt hat er uns mit einer Was-soll-ich-bloß-machen-Geste.

Er bedaure sehr, erklärt er, uns kein Opium anbieten zu können. Das sei eine gute, alte Sitte, aber verboten, seit fast 20 Jahren schon. Ein Jammer, seufzt Soni. Wir versichern, dass wir damit leben können, und einigen uns auf Masala Chai, den mit Milch gemixten Gewürztee. In unseren Gläsern dampft das Getränk, das nach Kardamom und Zimt duftet, und Meister Soni schüttet Eimer Nummer zwei, drei, vier und fünf auf der Matratze aus: Ketten schlängeln sich um Diademe, Ringe rollen über Broschen, Lapislazuli und Rubine schillern. Er verfügt über Schmuck aller Art und jeden Stils, indisch, persisch, afghanisch, chinesisch. Der kleinste Ring im Sortiment passt an das Fingerchen eines Neugeborenen, der größte Reif kann den Arm einer Scheichgattin vom Handgelenk bis zur Schulter bedecken. Ein Gelenk auf Ellbogenhöhe ist selbstverständlich eingebaut. Meister Soni ist Silberschmied.

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15 Angestellte gießen, hämmern, schmieden, treiben und polieren für ihn. Doch er ist auch Großhändler und regionale Sparkasse. "Silber kaufen und verkaufen wir nach Gewicht", sagt er. Egal, wie schön ein Stück geformt ist: Der Preis ergibt sich aus dem, was die Waage mit den zwei Messingtellern anzeigt. Worüber man dann natürlich noch verhandeln wird, nur nicht mehr bei einem Tässchen Opiumtee. Meister Sonis Geschäft ist krisensicher, weil in der Wüste, ganz im Westen Rajasthans, Vermögensbildung eine sehr handfeste Sache ist. "Die Leute in den Dörfern legen ihr Geld in Silber an", erzählt er, "so war es schon immer. Sie kaufen Silberschmuck, ihre Frauen tragen ihn."

Ein Bankkonto ist etwas Abstraktes, darauf will sich niemand verlassen. Silber war und ist das Zahlungsmittel, das jeder akzeptiert in Jaisalmer. "Dem Silber vertrauen die Menschen. Früher konnte man auch gut mit Opium bezahlen, natürlich."

Das Edelmetall ist tatsächlich allgegenwärtig. Unter den Saris der Frauen, unter den halbtransparenten Schleiern und Tüchern blitzt es hervor. Schon Babys tragen Kettchen um Hals oder Fußgelenk. Mädchen klimpern mit Ringen und Armreifen. Immer wieder blicken wir auch in Gesichter mit einem Schmuckstück zwischen Nase und Ohr, eine Silberplatte mit Steinen und Anhängerchen, am Nasenflügel und am Ohrläppchen befestigt. Die Marktfrau hinter ihren Bergen von Zwiebeln und Grünzeug ist in der Nase gepierct; die Mädchen, die auf ein paar Ziegen aufpassen, tragen Reifen aus Elfenbein und Silber um die Handgelenke.

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Sogar die Arbeiterinnen auf der Straßenbaustelle, die am Tag vielleicht 150 Rupien Lohn bekommen, verzichten beim Schuften nicht auf Ohrclips und Ringe in den Augenbrauen. Inder, haben wir irgendwo gelesen, besitzen die Gabe, den Alltag in Schönheit zu verwandeln und Schönheit alltäglich zu machen. Erst recht in Rajasthan. Denn Rajasthanis lieben nicht nur Schmuck, sondern auch starke, klare, leuchtende Farben – sie kleiden sich wie Schmetterlinge oder Blumen; als wollten sie mit den Signalfarbspielen ihrer Saris und Langhemden, der Umhänge und Pluderhosen das endlose Graubraun der Wüste kompensieren. Oder das Gelb-Gold-Ocker von Jaisalmer. Die alte Zitadellenstadt ist aus Sandstein auf einem Felsrücken erbaut. Die Farbe Gelb ist ihr Markenzeichen. Wenn die Sonne tief steht, leuchtet sie fast golden, sonst schimmert sie ockerfarben.

Jaisalmer liegt in der Wüste Thar und war jahrhundertelang eine bedeutende Karawanserei auf der südlichen Seidenstraße. Doch das ist lange her. Seit 60 Jahren schneidet die Grenze zu Pakistan, etwa 80 Kilometer im Westen, die Landstraße ab. Und wer in Delhi seine Waren exportieren will, der schickt keine Kamelkarawanen mehr durch Rajasthan Richtung Persien und Mittelmeer, sondern verschifft Container in Mumbai oder Kalkutta. So ist Jaisalmer keine Etappenstadt mehr wie in den Zeiten, als der Maharadscha durch Zölle und Steuern reich wurde. Es ist Endstation geworden, an den Rand Rajasthans und Indiens gerückt. Das war mit ziemlicher Sicherheit seine Rettung.

Jaisalmer: Tourismus als Rettung

Davon ist Jitendra Rathore überzeugt, der vor der Stadt ein Hotel betreibt. Es ist ein großzügiges Resort mit viel Grün, einem Pool, mit Patios und alten Balkonen, die Jitendra Rathore aus Abbruchhäusern bergen und in seinem Hotel als Dekoration wieder einbauen ließ. "Jaisalmer", sagt er entschieden, "wäre heute tot, wenn die Touristen ihm nicht wieder Leben eingehaucht hätten."

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Wir sitzen in der Bar seines Hotels – ein erstaunlicher Ort, der als Lounge auch nach Berlin oder London passen könnte: puristisch, durch bunte Glasbausteine von farbigem Licht beschienen, mit Sitzgruppen zum gepflegten Abhängen. Veredelt von einer Sammlung antiker Gefäße, bis zu 400 Jahre alte Bronzetöpfe, Keramikvasen, Glasschalen, um die den Hotelier jeder Antiquar beneiden dürfte. Jitendra Rathore nimmt einen Schluck Whisky und streicht sich durch den vollen Bart. "Voll" ist neutral ausgedrückt. Es ist eines dieser indischen Kinnhaar-Kunstwerke, die eigentlich rajasthanische Kinnhaar-Kunstwerke sind. "Ich bin ein Rajpute aus der Kaste der Krieger", erklärt er, "zu unseren Tugenden zählt die Gastfreundschaft, wahrscheinlich bin ich deshalb Hotelier geworden. Und zu unseren Erkennungszeichen gehört der Bart. Wissen Sie, nirgendwo auf der Welt ist der Bart so wichtig wie in Rajasthan." Bärte gebe es hier in solcher Vielfalt wie Sprachen, Kunst und Farben: "Mehr als 200 Dialekte werden in Rajasthan gesprochen. Alle 100 Kilometer finden Sie eine andere Architektur, ein anderes Design. Und im Land kennen wir 18 Arten, einen Turban zu wickeln, je nach Kaste und Region."

Und wie war das noch mal mit dem Tourismus, der Jaisalmer gerettet hat? "Ganz einfach", lächelt er. Es habe viele Nachteile, an den Rand eines Landes zu geraten. Aber auch einen großen Vorteil: Es verändert sich nichts mehr. Was man hat, bleibt erhalten. So lief es in Jaisalmer und eigentlich in ganz Rajasthan, und es ist kein Wunder, dass gerade dieser Bundesstaat am heftigsten vom Tourismus umarmt wurde. Mit all seinen Altstädten und Festungen, Palästen und Burgen, Tempeln und Basaren. Und die Besitzer der ganzen Pracht, meist die alten Maharadschas, brauchten das Geld, um das alles zu erhalten und zu bewirtschaften.

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Bis man allerdings dort ist, etwa in Jaisalmer, fährt man eine Weile. Über indische Landstraßen, die nicht bloß Verkehrswege, sondern Sozio- und Biotope sind. Wo teure Limousinen an Eselskarren vorbeizischen und monströse Trucks an Bauarbeitern, die barfuß und mit Weidenkörben auf ihren Köpfen Sand, Zement und Schutt schleppen. Oft bestehen die Baukolonnen aus Frauen – die müssen für noch weniger Geld arbeiten als ihre Männer. Sie tun es in ihren Saris, samt ihrem Schmuck, und sie bewegen sich unter den Körben auf ihren Köpfen wie auf dem Catwalk einer Modenschau.

Die Straße ist Bauplatz, Müllplatz und Restaurant, Markt und Werkstatt sowie, und natürlich, Promenade der Kühe. Das flache Land wellt sich leicht, mit Sandhügeln und Dünen, die nur spärliches Grün tragen. Die Dörfer sehen aus wie ein Stück Afrika: runde Lehmhütten mit Strohdächern, Zäune aus geflochtenen Zweigen, Mauern aus rotbraunem Sandstein. Wer also über die breiten Landstraßen rollt, kann schon weit im voraus erkennen, was auf ihn zukommt. Etwa ein großer Lastwagen, der einen kleinen Lastwagen, der einen Trecker, der einen Handkarren überholt. Oder eine Herde halbwilder Kamele. Ein Trupp Rinder, friedlich wiederkäuend, mitten auf dem Asphaltband. Ziegen- und Schafherden, schwarze Schweine, die Rüssel tief im Straßengraben, spielende Kinder und gleichmütig dahinspazierende Alte, hustende und knatternde Uraltmopeds – alle zeichnen sich deutlich in einiger Entfernung ab und man kann sich ihnen behutsam nähern und langsam vorbeifahren.

Sofern man ausländische, also empfindliche Fahrgäste in seinem Wagen hat. Kommt man jedoch als indischer Trucker angebraust, stellt man seine Hupe auf Dauerschall und bleibt auf dem Gas stehen. Aber das kennen all die Kamele und Bauarbeiter und Mopedfahrer – und sie sehen ja ebenfalls früh genug, was da auf sie zukommt.

Altstädte mit Straßenlabyrinthen

Die Pausen sind nicht weniger spannend als die Fahrten. Rajasthan bestand einst aus 22 souveränen Fürstentümern, oder sagen wir lieber: Königreichen. Jedes mit eigenem Maharadscha und Maharani, mit eigener Hauptstadt und allem, was an einem Herrscherhof dranhing. Politisch ist das längst Geschichte, aber es wirkt nach. Es bedeutet, dass man alle paar Stunden eine ehemalige Hauptstadt erreicht. Mit Palästen für den Maharadscha und für seine Haupt- und Nebenfrauen, für dutzende oder auch hunderte legitime, halblegitime und nicht so legitime Prinzen und Prinzessinnen. Mit Ställen und Werkstätten, Märkten und Basaren – mit der ganzen Logistik, die ein König so benötigt, und sei sein Reich noch so klein.

Viele Paläste heißen heute "Heritage Hotels", und man kann in ihnen wohnen. Was heißt wohnen: Man muss darauf gefasst sein, in ein achteckiges Zimmer mit einem achteckigen Bett geführt zu werden, und darauf liegen so viele Kissen, dass man sofort denkt: Hoffentlich kommt der abendliche Zimmerservice pünktlich, der das alles aufschüttelt und wegräumt vor dem Schlafengehen – selbst würde man die halbe Nacht dafür brauchen. Oder der Gang zum Zimmer führt an einer "dining hall" entlang mit dutzenden ausgestopften Tiger- und Jaguarköpfen an den hohen Wänden und, wie der Gepäckträger verkündet, mit mehr Lüstern als im Thronsaal der Zaren in Sankt Petersburg.

Zu Füßen der Paläste findet sich immer eine hübsche Altstadt, und das bedeutet: ein Labyrinth von Gassen und Gässchen. Sie führen meist nirgendwohin, man landet unweigerlich wieder auf der Hauptbasargasse. Aber bis man das herausgefunden hat, dauert es. Unterwegs stellt man fest, dass Kühe gern auch die schmalsten Sträßchen verstopfen und dass viele Inder unglaublich redselig und neugierig sind. Sie wollen unentwegt fotografiert werden, und wenn es recht ist, am liebsten mit dem Fremden zusammen.

Wenn die Beine müde werden, taucht immer, wie aus dem Nichts, ein Fahrzeug auf, das sie selbst "tree-wheeler" nennen, was nichts mit Bäumen zu tun hat, sondern ein motorisiertes Dreirad meint. Vorn ein Rad, hinten zwei. Vorn der Fahrer, hinten maximal zwei Passagiere – es sei denn, die Passagiere sind Inder, dann passt gut eine Großfamilie hinein.

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Sitzt man einmal drin in dem Gefährt, das in ganz Asien auch Tuk-Tuk heißt, dann flitzt alles im Zeitraffer vorbei, samt Läden, Menschen und Kühen. Und auch Tuk-Tuk-Fahrer verstehen zu hupen wie ihre Truckerkollegen von der Landstraße.

Einmal fahren wir in einem three wheeler durch den Basar von Jodhpur. Es geht gegen Abend, das Licht ist weich und satt, aber vorn färbt sich der Himmel rötlich-violett. Was irgendwie giftig und bedrohlich aussieht. Der Tuk-Tuk-Fahrer dreht sich zu uns um und sagt: "Sandstorm."

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Der Sandsturm kommt aus der Wüste und fällt über die Stadt her wie ein Tsunami. Eben noch leuchtete alles in warmen Farben, Sekunden später heult der Sturm durch die Gasse, Sandkörner dringen in Augen und Nase – und dann geht tatsächlich das Licht aus. "Total blackout, Sir", sagt der Fahrer. Stromausfall.

Wir halten an und warten den Sturm im Hauseingang eines guesthouse ab. Das Heulen legt sich bald wieder, aber es bleibt stockfinster. Nach und nach flackern Lichtinseln auf – Ladenbesitzer, die einen Generator angeworfen haben oder sich mit Gaslaternen behelfen. Aber niemand wird hektisch, keine lauten Rufe ertönen, keine Sirenen heulen – der Puls der Stadt schlägt gleichmäßig und ruhig weiter.

An einem kleinen Platz hockt eine Gruppe älterer Männer im Dunkeln. Einer spricht uns an und stellt sich als medical doctor vor. Im Moment könne er nichts tun, sagt er, seine Patienten würden später wiederkommen. Wie häufig kommt das vor, so ein Blackout, wollen wir von ihm wissen. "Oh, sometimes happens." Ah ja. Einmal im Jahr? Oder zweimal? Er fragt seinen Nachbarn, als könne er sich nicht erinnern. Sie palavern, blicken zu uns herüber, und dann beschließt der Doktor, dass er die Fremden lieber doch ein wenig beruhigen sollte.

Er sagt: "Light come back, people come back, you come back. No problem, Sir."

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